1. Heideggers Lebensbegriff im metaphysischen Kontext
In seiner Schrift über Die Grundbegriffe der Metaphysik (1929) befasst sich Martin Heidegger unter anderem auch mit dem Begriff des Lebens. Anders als Helmuth Plessner möchte er damit jedoch keine Anthropologie vertreten. Vielmehr behandelt Heidegger das Problem des Lebens im Rahmen der Metaphysik, die er als ein „Fragen“ versteht, „in dem wir in das Ganze des Seienden hineinfragen und so fragen, daß wir selbst, die Fragenden, dabei mit in die Frage gestellt, in Frage gestellt werden.“ (13) Metaphysik besteht nach Heidegger also darin, dass nicht nur bestimmte Fragen nach einem bestimmten Gegenstandesbereich (etwa das Sein oder die Substanz) gestellt werden, sondern dass darüber hinaus der gesamte Fragekontext, d.h. auch der Fragende selbst, mit in die Frage einbezogen wird. Objekt- und Metaebene fallen so nach Heidegger (und auch nach Hegel) in der Metaphysik zusammen.
Der Lebensbegriff ist nach Heidegger ein „Grundbegriff“ der Metaphysik. Dies bedeutet zweierlei: Zum einen ist er ein „Inbegriff“, insofern er nicht nur einen bestimmten Bereich des Seienden, wie etwa „Tier“ oder „Sprache“, betrifft, sondern in sich die Tendenz hat, auf das Ganze der Welt zu gehen (der Begriff des „Lebens“ ähnelt darin dem Begriff des „Seins“). Zum anderen zeichnet sich der Lebensbegriff dadurch aus, dass er nicht vom Fragenden – dem Menschen – getrennt werden kann, sondern ihn immer schon umgreift. Heidegger fasst diese Eigentümlichkeit folgendermaßen zusammen: „Metaphysisches Denken ist inbegriffliches Denken in diesem doppelten Sinne: auf das Ganze gehend und die Existenz durchgreifend.“ (13)
2. Der hermeneutische Zirkel des Lebens
Dadurch, dass das Leben ein Inbegriff ist und die Existenz des Menschen untrennbar mit ihm verbunden ist, muss eine hermeneutische Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit seiner Explikation erfolgen. Heidegger trägt damit der Tatsache Rechnung, dass wir den Lebensbegriff immer schon stillschweigend als bekannt voraussetzen, wenn wir ihn gebrauchen: „[E]s genügt nicht, die physiologischen Prozesse zu erforschen und daran noch irgendeine Tierpsychologie zu knüpfen, sondern bei all dem haben wir schon vorausgesetzt, daß das Tier lebt.“ (266) Heidegger macht in diesem Zusammenhang auf den hermeneutischen Zirkel aufmerksam, in dem wir uns dabei immer schon befinden: „Wir bewegen uns also in einem Kreis, wenn wir eine gewisse Grundauffassung vom Wesen des Lebens und von der Art seiner Auslegbarkeit voraussetzen und aufgrund dieser Voraussetzung gerade den Weg bahnen, zu einer Grundauffassung des Lebens zu kommen.“ (267)
3. Das Wesen des Organismus
Ähnlich wie Aristoteles die Substanz als ausgezeichnetes Seiendes im Rahmen seiner Metaphysik identifiziert, exponiert Heidegger den Organismus als zentralen Bezugspunkt bei der Frage nach dem Leben. Heidegger nähert sich dem Organismus dadurch an, dass er ihn in eine Analogie zum „Werkzeug“ (gr. organon) bzw. „Zeug“ bringt. Damit trägt Heidegger der Tatsache Rechnung, dass es sich hierbei um einen praktischen Kontext handelt, innerhalb dessen das Leben Bedeutung erlangt.
Heidegger bestimmt ferner das Wesen des Organischen als „Benommenheit“. Dieser Begriff ist bewusst vieldeutig gewählt: (i) im Sinne der privativen „Genommenheit“, als Fehlen „der Möglichkeit von Offenbarkeit des Seienden“ (376), d.h. als bloßes Verhalten; (ii) im Sinne des „Hinnehmens“ der naturkausalen Determination („Treiben“); (iii) im Sinne der „Eingenommenheit“ in die umgebende Triebstruktur, was Heidegger auch als „Umtrieb“ bezeichnet (damit könnte etwa der Lebensraum gemeint sein); (iv) im Sinne eines „Umrings“, innerhalb dessen es eine gewisse Handlungsfreiheit („Fähigkeit zu…“; 377) besitzt (damit könnte die spezifische Art gemeint sein); (v) im Sinne des „Ringen[s] um den das Umtriebsganze umringenden Umring“, was Heidegger als „Selbst- und Arterhaltung“ versteht (377).
4. Die zeitliche Struktur des Organismus
Heidegger betont, dass Leben nicht nur im Prozess besteht, sondern dass die Bewegung des Lebens spezifisch und phasenhaft bedeutsam ist. Der Organismus besitzt deshalb eine „Bewegtheit eigener Art“ (385), die Heidegger auf die Benommenheit bezieht. Vor dem Hintergrund dieser wesentlichen Zeithaftigkeit des Organismus bezeichnet Heidegger, ähnlich wie vor ihm Plessner, den Tod als „Prüfstein für die Angemessenheit und Ursprünglichkeit jeder Frage nach dem Wesen des Lebens“ (387). Als absolute Grenze ‚definiert‘ der Tod das Leben und steckt den zeitlichen Rahmen ab, innerhalb dessen Leben erst (normative) Bedeutung erhält: „Gleich wesentlich wie die Frage nach dem Wesen des Lebens in Richtung auf das Wesen des Organismus ist die Frage nach dem Wesen des Lebens in Richtung auf die Frage nach dem Wesen des Todes.“ (387) Hierin kann man einen Rückverweis auf Heideggers These des „Vorlaufens in den Tod“ erkennen, die er zuvor in seinem Werk Sein und Zeit (1927) entwickelt hatte, auch wenn dies ausdrücklich im Rahmen einer Daseinsanalyse geschah, die die Frage nach dem Leben nicht explizit behandelte.